Was für eine Überraschung! In 2016 gab es einen dienstlichen Anlass, der mich inspirierte zu Recherchezwecken nach Québec zu reisen. Ich wollte in Montréal starten und weiter nach Québec City. Auf dem Weg die Geschichte des Landes ergründen, Literatur finden und die Kultur erkunden. Nach diesem dienstlich motivierten Teil wollte ich schließlich weiter den Lorenzstrom hinauf nach Tadoussac reisen, um dort meiner Sehnsucht zu folgen, einmal Wale nah zu erleben. So der Plan. Kanada selbst war zuvor nicht auf meiner inneren Landkarte. Eher ein schwarzer Fleck. Umso spannender war der Aufruf, mich nun in dieses Nirgendwo zu begeben. Um mit den Menschen wirklich in Kontakt zu kommen und möglichst viel über das Land herauszufinden, wählte ich Air BnB bei Gastgebern, die nur ein Zimmer in ihrem Haus vermieteten. Und dabei entdeckte ich auf ganz überraschende Weise meine Intuition. Ich schaute mir die Karte an und fragte mich wo es gut sein könnte. Ich landete durchweg die besten Treffer. Eigentlich weiß man nie genau was kommt, aber ich trainierte immer klarer und war so viel mit mir allein in einem fremden Land, dass mein innerer Kompass sich mit der Zeit stark verfeinerte und die daran gebundene innere Stimme ganz klar wurde. Sie begann mir bald schon vorher zu erzählen was mich am nächsten Ort erwarten würde. Ich wusste von dieser Fähigkeit zuvor nichts. Hier war sie aber sehr hilfreich, denn sie gab mir Sicherheit. Ich konnte mich voller Vertrauen in diesem fremden Land orientieren. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben keine Angst mehr. Bei meinen aufmerksamen Museumsbesuchen, die ich normaler Weise langweilig, aber hier wirklich sinnvoll fand, entdeckte ich die Spur der Natives. Ich wurde plötzlich hellhörig. Es gab eine Spur zu ihnen, doch brach sie gleichermaßen immer wieder ab. Die Museen aus Sicht der Einwanderer ließen sie auftauchen, aber wieder verschwinden und ich entdeckte eine Art Lücke in der Geschichte, die ich mir nicht erklären konnte. Wieso waren sie in einem Moment der Geschichte scheinbar weg? Die Antwort darauf fand ich erst sehr viel später. Zwischenzeitlich hatte ich in einer Filmstudenten-WG, bei einer französischen frisch getrennten Krankenschwester, einer Brasilianerin mit Baby und einem jungen Paar in einer sehr festen Beziehung gewohnt und hatte durch Zufall eine Straße gefunden, die wie ich Hertel heißt. Alle waren so persönlich gastfreundlich, als wäre ich ein Familienmitglied. Es gab überhaupt keine Hürden von Befremden in der Annäherung. Es war einfach nur herrlich so willkommen zu sein. Ich hatte das Gefühl in diesem Land war meine Art überall. Nicht ich war hier anders, sondern sie waren so wie ich. Die Menschen begegneten mir offenherzig, freundlich und voller Vertrauen. Sie machen offenbar keinen Unterschied zwischen Freunden und Fremden. Sie holten mich vom Bus ab als wären sie meine Geschwister und ließen den Schlüssel unter der Fußmatte, damit ich eintreten konnte wenn sie nicht da waren als ich ankam. Es war neu für mich. In Deutschland erlebe ich so viel Distanz, Geiz und Misstrauen zwischen den Menschen.. geht es dir auch so? In Kanada waren alle nah, großzügig, freundlich, voller Vertrauen und liebevoll. Wie habe ich das genossen! Es machte mich so frei und leicht. Ich fühlte mich geborgen, obwohl ich Niemanden wirklich kannte. Die Gründe für die Mentalität eines Volkes sind so mannigfaltig wie ihre Geschichte. Hier in Kanada fühlte ich mich verbunden und das gab mir Zugang zu einem inneren Wissen, den ich vorher lange nicht hatte. Ich sah nicht nur die Mentalität der Kanadier, sondern ich erkannte plötzlich auch die der anderen Völker auf neue Weise. Und mich. Ich erlebte in der Szenerie voller Vertrauen ganz natürlich Heilung, für die ich mich lange vorher schon angestrengt, aber die ich nicht erreicht hatte. Hier geschah sie einfach von Selbst. Ich fühlte mich willkommen wie nie zuvor in meinem Leben. Ich musste dafür nichts tun, nichts leisten, keine Erwartungen erfüllen und nichts richtig machen. Ich durfte sein. Ich war als Mensch angenommen. Bedingungslos. Wie befreiend! Durch das ständige mit mir All-ein sein war mein Bewusstsein so offen, dass sich mir plötzlich ganz leicht so Vieles erklärte und ich täglich spürte, wie ich heilte und sich mein Bewusstsein erweiterte. Ich war dabei vollkommen nüchtern und ganz bei Sinnen. Es war ein herrlicher Sommer. Schönes Wetter und die Weite des Landes gefiel mir unglaublich. Ich sagte immer wie sehr ich die Tannenspitzen am Horizont liebte. Der Blick beruhigte mich. Er gab mir ein tiefes Gefühl von Heimat, das ich mir erstmal noch nicht erklären konnte. Nachdem ich bis Québec City gekommen war, kam ich mit Air BnB, Bus und Mitfahrgelegenheit nicht weiter. Die Wale erschienen unerreichbar. Und nun? Ich ließ meinen inneren Kompass aktiv werden. Schaute, wo die Mitfahrgelegenheiten hinfuhren. Wohin gab es häufige Fahrten? Welcher Ortsname behagte mir? Ich stieß auf Chicoutimi. Der Name klang vielversprechend in meiner Seele. Ich schaute nach. Es war ein indianischer Name und bedeutet „bis wo das Wasser tief ist“. Jaaaaa, da will ich hin! Auf Air BnB fand ich einen stillgelegten Camper bei einem Mann Namens Bob. Eigentlich wollte ich zu meinem Schutz nicht zu allein stehenden Männern reisen, doch meine Intuition sagte mir es sei sehr gut. Mein Verstand wollte hinterherkommen. Suchte nach Bestätigung. Er sah fein aus und anständig. Und die Bewertungen sprachen von lustigen Begegnungen mit seinem erlebenswerten Vater. Mein Inneres resonnierte stark und ich buchte 4 Tage. In der Nacht hatte ich zum ersten Mal Visionen in die Zukunft mit klaren Sätzen. Unter anderem war da der Satz „Er hat viel Zeit für dich und wird dir sein Land zeigen.“ Merkwürdig?!….Da ich zudem spürte, dass es mir dort sehr gut gehen würde merkte ich, dass ich möglichst lange bleiben wollte und verlängerte meine Buchung bis einen Tag vor Abflug in Montréal. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sich meine Visionen bestätigen würden und dass sich in mir eine Fähigkeit geöffnet hatte. Ich vertraute und war neugierig, das war alles. Bob schrieb mir, er würde sich auf meine Ankunft freuen und mich vom Bus mit seinem Cabrio abholen. Es stellte sich heraus es war ein englischer Spitfire. Mein Rucksack passte nur außen angeschnallt aufs Auto. Im Camper angekommen fragte mich Bob, ob ich was essen wolle, ich hätte doch sicher Hunger, er habe Hähnchen vorbereitet. So bekam ich wenige Minuten Hähnchen mit Kartoffeln und Erbsen. Yammi. Eigentlich esse ich möglichst kein Fleisch, doch in der Situation erschien es mir angemessen seine Angebot anzunehmen. Am Abend kam er vorsichtig achtsam erneut zu mir und fragte mich, was ich denn eigentlich vor hätte, da seine Gäste normaler Weise nur eine Nacht bleiben würden, ich hingegen 10? Ich erzählte ihm von meiner Vorgehensweise und dass ich ursprünglich zu den Walen wollte, dies aber nicht geklappt hatte. Er sagte sofort er würde mich hinfahren. Es waren über 300 Meilen Weg….Wow! Und so folgten 10 tolle Tage, in denen er täglich mit mir Ausflüge machte. Wir verstanden uns wie Geschwister und seine Eltern nahmen mich an wie ihre Tochter. Eines Tages bekam ich wieder eine Eingebung. Ich hatte das Gefühl adoptiert werden zu wollen, weil es sich so anfühlte als wäre ich wirklich ihre Tochter. Dazu gab es Sätze, an die ich mich nicht mehr genau erinnere. Am gleichen Tag erzählte mir Bob von seiner Migräne und dass seine Mutter immer so traurig sei, weil sie selbst ein Waisenkind war und seine Schwester kurz nach der Geburt gestorben ist. Mir rannen die Tränen nur so runter. Mich überkam das Gefühl diese Seele zu sein. Wir haben bis heute alle zusammen eine erstaunliche Verbindung und vieles durfte seither heilen, u.a. hat seine Mutter ihre Familie wiedergefunden und weiß nun auch endlich wo sie herkommt. Sie nennen mich „unsere Tochter“, wobei das Wort für Tochter im Französischen das gleiche ist wie Mädchen. Das Gefühl und die Verbindung sind für mich entscheidend. Ich habe so viel Heilung dadurch erfahren! Und es ging noch darüber hinaus….Ich wollte nicht mehr nur zu den Walen, sondern inzwischen auch in ein Reservat. Hier war zur damaligen Zeit sowohl bei Bob als auch seinem Vater eine Grenze. Bob brachte mich überall hin, aber nicht ins Reservat. Für seinen Vater waren Indianer zu der Zeit Nichtsnutze und gefährliche Süchtige. Dabei spürte ich ihn als wäre er mein Häuptling. Auch wieder so ein seltsamer Gedanke…Ich musste alleine dorthin und es fahren keine Busse. So bin ich mit dem Bus nach Roberval und hoffte, dass sich irgendwas ergeben würde. Und tatsächlich…Mit mir stieg eine Inuit-Mädchen aus. Das ist die korrekte Bezeichnung. Doch ist sie eine Indianerin wie ich sie suchte? Indianer*in ist für mich ein Mensch, der zutiefst verbunden in Gemeinschaft lebt, die Schöpfung achtet, sich mit ihr eins fühlt und seiner inneren Bestimmung folgt. Dieses Mädchen strahlte eher innere Verlorenheit aus. Von ihr hörte ich zum ersten Mal von den sogenannten „Pensionnats“, indem ihre Mutter als Kind war und indem man ihr alles aberzogen hatte, was ihrer Herkunft entsprach. Die Mutter war sehr nett und freundlich, der daneben sitzende Vater wirkte auf mich gewalttätig und betrunken, doch gerade friedlich. Das Mädchen öffnete die Schiebetür des Van, es lag überall Müll – Plastikbecher, ein zerrissenes T-shirt, und auf dem Sitz ein gedrehtesTaschentuch, mit dem jemand sein Nasenblutung gestillt hatte …uff. Erfüllte diese Familie wirklich das Klischee, von dem Bobs Vater gesprochen hatte? Ich fühlte nochmal kurz in mich hinein, bevor ich einstieg. Würde ich hier sicher sein? Es gab keinen Zweifel. Sie nahmen mich wie gewünscht mit nach Mashteuiatsh und hatten die Idee mich zum Musée des Amérindiens zu bringen. Dort angekommen endete eigentlich gerade eine Führung und ich sollte auf einem Stuhl auf die nächste warten. So hörte ich die Familiengeschichte der Indianerin, die gerade die Führungen machte. Und wieder rannen mir die Tränen. Ebensolche waren mir schon im Bus auf dem Weg ins Reservat gelaufen. Ich sah die Kornfelder, und das damalige Territorium. In mir stieg eine leise Erinnerung auf, die ich noch nicht ganz fassen konnte, die mich jedoch ganz traurig machte und sonderbar berührte. Die leisen Tränen sind besondere Tränen. Mit ihnen steigt Erinnerung auf. Mit ihnen geschieht Heilung. Mit ihnen kehren wir zurück in unsere Seelenessenz… …ein Teil von mir ist hier zuhause. Ich gehöre zu ihnen. Ich hatte lange das Gefühl so wie ich war durfte ich nicht sein. Ich dachte ich sei falsch. Mein Inneres preiszugeben ist mit der Angst gekoppelt, dafür ausgeschlossen und vernichtet zu werden. Ich fühlte mich lange von meiner Familie getrennt, obwohl ich bei meinem Vater und meiner Mutter war, die mich gezeugt hatten und die mich liebten. Es war ein tief liegendes verwaistes Seelengefühl, in anderen Inkarnationen begründet. Es wollte geheilt werden. Es ist Teil meiner Seelengeschichte. Ich fühle zutiefst mit Menschen, die entwurzelt sind und sich verwaist fühlen, denen man ihre Verbindung zum Ursprung mit Gewalt aberzogen hat, die man von ihren Familien getrennt, ihre Sprache verboten, ihr Land weggenommen und zur Anpassung gezwungen hat, die man ausschließt… Viele wurden und werden bis heute missbraucht, missachtet, Kinder und Mädchen verschwinden, Wahrheiten werden vertuscht. Nur langsam geschieht eine Aufarbeitung der tragischen, dunklen Geschichte… die weitverbreitete Abhängigkeit von Drogen und Alkohol, die Verzweiflung aufgrund der Entwurzelung, sie hat einen Grund und eine Ursache. Sucht bedeutet Suche. Ich Selbst habe in diesem Leben diese Art Abhängigkeiten nicht gehabt, aber ich bin ihnen in Beziehungen zu anderen Menschen begegnet. Ich habe Mitgefühl und keine Verurteilung dafür. Zweifel waren lange meine Begleiter, bevor das Licht und die Liebe wieder Raum gewannen. Um mich Selbst und meine Seelenfamilie wiederzufinden, habe ich alles gegeben. Wenn wir uns dafür öffnen, hilft uns das Leben. Es geschieht. Wir werden geführt und beschützt. Wir dürfen heilen. Ich habe auf dieser Reise meine Wurzeln wiedergefunden und tiefe Wunden geheilt. Ich bin nach Hause zurückgekehrt. Ich nehme „mein Kanada“ jetzt überall mit hin. Die Indianerin ist in mir. Das verlorene Mädchen, meine Intuition, ich habe sie geborgen.
Sabine Maria Hertel, 6.7.2021