Faszination Malort
Der beste Ort, den ich bisher auf der Welt gefunden habe, an dem eine Gruppe von Menschen in Harmonie zusammen sein und sich ein jeder frei entfalten kann, ist der Malort von Arno Stern. Er hat nach dem Krieg eine Malschule gegründet und mit den Jahren bewiesen, dass es den Kindern nichts beizubringen gibt. Sie brauchen keine Schule, sondern sie brauchen einen Ort, an dem sie sein können. Er gibt seit 75 Jahren Menschen jeden Alters diesen Ort. Er ist mit 96 Jahren immer noch aktiv und vollkommen lebendig. Er hat in diesen Jahren viel geforscht und dabei herausgefunden, dass alle Kinder in der gleichen Weise eine universelle Sprache entwickeln und sich die Formulation egal wo auf der Welt nach gleichen Gesetzen entfaltet. Dies kommt aus den Kindern selbst. In den letzten Jahren hat er zunehmend bemerkt, dass die spontane Äußerung der Kinder kaum mehr möglich ist. Das natürliche Formulieren der Menschen ist bedroht!
Wo gibt es einen Ort, an dem Kinder Ordnung finden, ohne in ihrer Entfaltung beschnitten zu werden?
Wo gibt es einen Ort, an dem sie sich frei ausdrücken können?
Wo gibt es einen Ort, an dem sich 15 Menschen gleichzeitig, achtsam, respektvoll, in Liebe geborgen und frei fließend äußern und im Alter zwischen 3 und 97 Jahren sind?
Im Malort. Was passiert dort?
Der Raum hat ca. 20 qm, geschlossene Wände, in der Mitte steht eine lange, schmale Bank auf Hüfthöhe, mit 18 Farben und ebenso vielen Wassertöpfchen sowie jeweils 3 Pinseln daneben. Jeder Mensch egal welchen Alters hat ein Papier auf Augenhöhe an der senkrechten Wand, auf dem er malt. Das ist der individuelle Raum. Und jetzt kommt´s: dieser ist unendlich! Das bedeutet: wenn der Rand erreicht ist und das Bild weitergehen soll, wird ein weiteres Blatt angehangen. So ist es möglich, dass Menschen kilometergroße Bilder malen, über Jahre hinweg, ohne dass sie dabei eine Einschränkung erfahren würden. Sie denken dabei auch nicht nach, ob sie es gut machen, da niemand sein Bild nachhause nimmt und es von niemandem bewertet wird. Von niemandem. Es darf einfach sein. Es geht nur um den Moment der Formulation aus dem Selbst heraus. Je mehr der Mensch sich selbst dem Fluss überlässt, desto freier geschieht das Malen.
Arno Stern bezeichnet sich als Malortdienenden. Er tut nichts anderes, als dafür zu sorgen, dass die Menschen im Malort fließend und ungestört bildlich formulieren können. Dabei schwingen sie hin und her zwischen dem eigenen Papier und der Palette in der Mitte, die sie mit den anderen teilen. Es fehlt an nichts, um alles im Fluss zu halten. Sie bilden miteinander eine Art Stern. In der Mitte ist das Gemeinsame, und jeder gestaltet seine Spitze wie es ihm gefällt. Niemand stört sich gegenseitig, es herrscht eine achtsame, natürlich ungezwungene Stimmung.
Ich habe mich 4 Wochen lang in den Sommerferien von Arno Stern schulen lassen. Nicht mit dem Ziel, einen Malort zu eröffnen, wobei mir das auch viel Spaß machen könnte, jedoch mit dem Bedürfnis die Formulation, den Malort und die Sichtweise Arno Sterns zu durchdringen.
Ich war vorher auf seinen Sohn André gestoßen, der nie zur Schule gegangen war, und dennoch eine beachtliche Entwicklung gemacht hat und sehr erfolgreich im Leben steht. Ich versprach mir über den Vater und die Bücher der beiden herauszufinden, was ein Kind braucht, um so frei und glücklich aufzuwachsen.
Ich habe herausgefunden, dass ich den Schlüssel schon längst in mir trug, es jedoch als Träumerei und unrealistische Einstellung abgetan hatte.
Sie sind für mich Sterne am Horizont, die mir plötzlich Mut gemacht haben, dass meine Idee keine unrealistische ist. Seit dieser Ausbildung traue ich mich an mich selbst zu glauben. Sie war es dreimal wert, auch wenn ich nie selbst einen Malort eröffnen würde. Ich wünsche jedem Kind dieser Erde, dass es eine Erfahrung macht, wie es im Malort möglich ist.
Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung? Wie kann ich das auf andere Räume übertragen?
Arno Stern sorgt für die Ordnung im horizontalen Raum, während die Menschen im Malort in ihrem Raum zwischen Himmel und Erde vollkommen frei sind.
Wir brauchen eine Ordnung! Nicht um der Ordnung Willen, sondern damit wir uns darin frei entfalten können.
Und Ordnung ist nicht darauf beschränkt, dass wir den Kindern Regeln geben. Ordnung bedeutet für mich eine stimmige Harmonie.
Kinder brauchen unser Vertrauen, dass sie alles in sich tragen, was sie in dieser Welt brauchen. Sie brauchen unsere Bereitschaft, auch von ihnen zu lernen. Sie brauchen Sicherheit im horizontalen Raum.
In was für einer Welt lassen wir sie leben?
Wir können die Verantwortung nicht auf die Welt abschieben. Wir selbst sind Gestalter dieser Welt. Und tragen Verantwortung für unsere Träume.
Glaubst du noch an deinen Traum?
Sabine Maria Hertel, 13.2.2021